Am 5. September 1947 kamen fünfzehn junge Männer und Frauen in einem Haus am Allgäuer Bannwaldsee zusammen, um sich ihre Texte vorzulesen, um eine literarisch-politische Zeitschrift zu gründen und um über die Aufgaben von Wort und Schrift in Zeiten des Zusammenbruchs zu reden.
Hans Werner Richter, der Gründer und Mentor der damals entstandenen „Gruppe 47“ war überzeugt, dass nach den Jahren der Diktatur, des Krieges und des Zusammenbruchs kultureller Traditionen eine neue Literatur entstehen müsse, die in einer neuen, schnörkellosen Sprache die Themen und Erfahrungen der eigenen Generation zu gestalten hätte.
Aber nicht nur das. Literatur sollte sich als wirkende geistige Kraft am Entstehen einer neuen „res publica“, einer neuen Gesellschaft in einem neuen Staat beteiligen, das Gewissen der Menschen schärfen und die Stimme der Dichter und Schriftsteller im weitesten Sinne politisch zu Gehör bringen.
Literatur und Öffentlichkeit, diese beiden Wurzeln der „Gruppe 47“ haben sich drei Generationen über alle Unterschiede der Temperamente und Themen hinweg als produktiv und lebendig erwiesen, sie haben es dank Hans Werner Richters Gespür für Qualität und seiner weisen und toleranten Gesprächsführung möglich gemacht, immer wieder junge Talente in eine Gruppe ohne Satzung und Mitgliederverzeichnis zu integrieren und sich bis zum Jahre 1990 vierunddreißigmal zu treffen.
Vierundfünfzig Jahre später hat die von Hans Werner Richters Frau Toni (1918-2004) mit ihren privaten Ersparnissen errichtete Hans Werner Richter-Stiftung erneut begonnen, junge Autorinnen und Autoren zu Vorlesungen und Diskussionen, zum Gedankenaustausch und zum Nachdenken darüber einzuladen, welche Rolle Wort und Schrift im einundzwanzigsten Jahrhundert spielen sollten. Diesmal freilich kamen und kommen die Teilnehmer*innen nicht allein aus Deutschland, sondern auch aus Estland, Finnland, Georgien, Griechenland, Kroatien, Litauen, Lettland, Norwegen, Polen, Russland, Schweden, Tschechien, der Türkei und Ungarn. Es sind Autoren darunter, die in ihren Heimatländern selbst Diktatur, politische Unterdrückung und Verfolgung erlebt haben, die nach Deutschland ausgewandert sind, um in der Sprache der neuen Heimat zu schreiben, oder die sich gegen die ubiquitäre Diktatur des Fernsehens, des Internets und der Spaßgesellschaft zur Wehr setzen.
„Junge Literatur in Europa“ haben wir diese Treffen genannt, obwohl die Stimmen unserer westlichen und südlichen Nachbarn darin noch nicht stark vertreten sind.
Aber die Aufgabe beginnt sichtbar zu werden: Europa muss zusammenwachsen, und das gelingt nicht, wenn außer Geld, Wirtschaftsfusionen, Administration und Parteipolitik kulturelle Themen ausgeklammert, oder in Museen abgedrängt bleiben. Die geschichtlich gewachsenen Identitäten der europäischen Länder haben ihren Niederschlag immer in ihren Literaturen gefunden. Wir müssen uns deshalb ganz offen die Frage stellen, ob der verdrossene Abschied so vieler junger Autor*innen von der „res publica“ und ihren drängenden Themen, – ob der Rückzug in den Kokon des Privaten und „Befindlichen“ ein Weg in die Zukunft ist.
Auf den internationalen Autor*innentreffen „Junge Literatur in Europa“ geht es um Texte. Aber es geht auch um das persönliche Gespräch zwischen Autoren und um die Frage, welchen Beitrag europäische Literaturen zur Gestaltung der Zukunft leisten können und wollen.