HANS WERNER RICHTER UND DIE GRUPPE 47

von: Hans Dieter Zimmermann
Vorsitzender der Hans Werner Richter – Stiftung

„Als mich Hans Werner Richter zum ersten Mal zu einer Tagung der Gruppe 47 einlud, sah ich das Bild einer großen grünen Wiese mit weit darüberhin verstreuten weißen Zelten vor mir. Ob die Tagungen später in Gasthöfen, Burgen oder Strandhotels stattfanden, dieses innere Bild blieb bestehen. Vielleicht hängt es mit der Atmosphäre der Heiterkeit, der Geborgenheit im Offenen zusammen, die fast allen Tagungen gemeinsam, war. Dass man zuweilen kritisiert, auch scharf kritisiert wurde, dass es, wie nicht anders möglich, innerhalb der Gruppe zu Spannungen kam, schmälerte diese Geborgenheit kaum. Alles war ins Offene gesagt. Die Freundschaften innerhalb der Gruppe und die Freundschaft, die diese Gruppe ausstrahlte, schliefen in den halbjährlichen oder jährlichen Pausen zwischen den Tagungen nicht ein. Ambitionen, Rivalitäten gab es und musste es auch geben, aber das Maß gab die Freundschaft.“

So erinnert sich Ilse Aichinger 1987 an die Gruppe 47. Was diese Gruppe war, was sie für die Teilnehmer bedeutete, aber auch für das literarische Leben der jungen Bundesrepublik, ist heute schwerlich zu ermessen. Dass sie nach den Verheerungen von Krieg und Nazizeit einen neuen Ton fand, eine neue Art der Freundschaft, des freien Redens, des offenen Umgangs in einer Zeit der Stummheit und Verstocktheit, ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Man müsste die Literaturszene rekonstruieren, in der noch der pathetische Ton der Vorkriegszeit dominierte und Autoren der inneren Emigration und der Kollaboration das Sagen hatten. In der Gruppe 47 trafen sich jüngere Autoren, die zuvor nicht oder nur wenig publiziert hatten, es gab Ausnahmen wie Günter Eich, und jüngere Autoren des Exils, denen hier der Zugang zum deutschen Publikum geöffnet wurde: Wolfgang Hildesheimer, Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried und die Kritiker Marcel Reich- Ranicki und Hans Mayer, die hier ihre Karriere in Westdeutschland begannen.

Auch der viel berufenen Auftritt Paul Celans auf der Tagung in Niendorf 1952 war für diesen erfolgreich. Er fand einen Verleger, erste Rundfunkaufnahmen entstanden, Freundschaften wurden geknüpft mit Heinrich Böll, Paul Schallück, Rolf Schroers, später mit Günter Grass und Walter Höllerer. Auch zu Hans Werner Richter riss die Verbindung nicht ab trotz der enorm taktlosen Bemerkung Richters über den hohen Ton, den Celan wieder einführte. Celan kam zwar nicht mehr zu Tagungen der Gruppe, wiewohl ihn Richter immer wieder einlud, aber sie korrespondierten und sie trafen sich 1962 wieder zu einem guten Gespräch, wie Celan in einem Brief bestätigte.

Der Ursprung der Gruppe liegt in einem amerikanischen Kriegsgefangenlager, in dem Hans Werner Richter und Alfred Andersch die Zeitschrift „Der Ruf“ herausgaben, die sie nach der Entlassung in München erfolgreich fortführten, bis sie auf Druck der amerikanischen  Militärregierung zurücktreten mussten. Sie hatten auch die Besatzungsmacht kritisiert. Aus dem ersten informellen Treffen der Mitarbeiter des „Rufs“ 1947 bildete sich die Gruppe, die sich nach und nach erweiterte. Zweimal im Jahr trafen sich Autoren und Publizisten. Hans Werner Richter lud ein, meist in entlegene Gasthöfe, da blieben die Teilnehmer zusammen und da waren sie ungestört, bis der Presserummel um die Gruppe entstand, der sie schließlich berühmt machte.

Hans Werner Richter war der Initiator und der Motor des Ganzen. Von keinem andern hätten wir uns das gefallen lassen, sagte einmal Hans Mayer. Er war eine Autorität, aber er war nicht autoritär. Er war freundlich und verbindlich, aber nie gleichgültig. Er achtete auf Qualität, nicht nur literarische, auch menschliche. Heute würde man sagen: er war der Moderator. Er lud ein, er saß vorne auf einem Sessel und leitete die Sitzungen, er erteilte das Wort, ohne an den Diskussionen mitzuwirken. Ein Autor las und dann wurde über das Vorgelesene gesprochen. Der Autor musste dazu schweigen, was den Nachteil hatte, dass er auch Missverständnisse nicht aufklären konnte. Doch dies war die Übung: freie Rede, offenes Gespräch, kontroverse Debatten, ohne dass unterschiedliche Positionen zu unversöhnlichem Streit führten. Man war anderer Meinung, aber man akzeptierte einander. Das musste nach der Nazizeit erst einmal gelernt werden. Es  gab keine Dogmen, keine Festlegung auf bestimmte literarische Konzepte. Mag am Anfang ein schlichter Realismus dominiert haben wie in Richters erstem Roman „Die Geschlagenen“, so kamen bald weitere Schreibweisen hinzu, nicht zuletzt durch die Lyriker Ingeborg Bachmann und Paul Celan, schließlich durch Prosaisten wie Ilse Aichinger, später Helmut Heißenbüttel, Peter Bichsel, Jürgen Becker, den letzten Preisträger der Gruppe 47, der von den Teilnehmern in geheimer Abstimmung jeweils gewählt wurde.

Einige Autoren, die an den Tagungen teilnahmen, sollen neben den genannten noch angeführt werden: Carl Amery, Ingrid Bacher, Reinhart Baumgart, Horst Bienek, Johannes Bobrowski, Milo Dor, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Hubert Fichte, Peter Härtling, Walter Jens, Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Barbara König, Siegfried Lenz, Reinhard Lettau, Tadeusz Nowakowski, Fritz J. Raddatz, Klaus Roehler, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser, Gabriele Wohmann.

Eine politischen Verpflichtung allerdings gab es: Abwehr des Nationalismus und Nationalsozialismus, Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie. Dass zwei der jungen Autoren noch Mitglieder der NSDAP gewesen waren, wusste Richter nicht. Dass sie nunmehr engagierte Anhänger der parlamentarischen Demokratie waren, das konnte er erleben. Sein Misstrauen hätten sie sonst geweckt, wie es im Falle des ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Rolf Schroers der Fall war, von dem Richter sich schließlich in einem unschönen Streit trennte. Auch Paul Celan brach die Korrespondenz mit Schroers ab, nachdem er dessen Schrift „Der Partisan“ gelesen hatte, die merkwürdige Schrift eines Offiziers, der im Partisanenkrieg in Italien 1944 gekämpft hatte. Da waren, so schien es, nationalsozialistische Restbestände. Mit denen sollte die Gruppe nichts zu schaffen haben.

Die Gruppe 47 wurde von Anfang an angegriffen, zunächst von nationaler und konservativer Seite, dann auch von linker Seite, nämlich aus der DDR, schließlich auch in der Bundesrepublik und zwar in einem Organ, das zumindest zeitweise von der DDR finanziert wurde: in der Hamburger Studentenzeitschrift „konkret“ im Jahre 1966. Der Angriff in „konkret“ war für Richter deshalb so schmerzhaft, weil er von links kam, verstand er sich doch als Linker, und von dem angesehenen Autor Hans Erich Nossack und dem Emigranten Robert Neumann. Dies mag der Anstoß zu dem Tagebuch Richters gegeben haben, das wir hier der Öffentlichkeit vorlegen.

Es ist kein intimes, es ist ein literarisch- politisches Tagebuch, das Richter wohl für eine spätere Veröffentlichung vorgesehen hatte. Er übergab es schließlich seinem Freunde Arnulf Baring, der eine Biographie Richters schreiben wollte. Dominik Geppert, Ordinarius für Zeitgeschichte der Universität Bonn, hat es nun unter Mitarbeit von Nina Schnutz abgeschrieben, kommentiert und herausgegeben und damit den Lesern zugänglich gemacht: die persönliche Sicht eines Autors, der mittendrin stand in der literarischen und politischen Szene dieser für die Bundesrepublik so wichtigen Jahre 1966 bis 1972.

Richter wollte sich hier offensichtlich seiner Position versichern und die Ereignisse festhalten und kommentieren, die ihn bewegten und erschütterten, nicht zuletzt weil sie ihn erinnerten an schmerzhafte Erfahrungen vor und nach 1933. Dies war auch der Anstoß zu seinem Roman „Rose weiß, Rose rot“, an dem er in dieser Zeit arbeitete. Es ist kein großer Roman, aber ein Werk, das die Erfahrungen seiner Generation weitergeben sollte: die Zersplitterung der Linken, der Kampf der Linken gegen die Republik, das Versagen der KPD vor 1933 und die Zerstörungen des Nationalsozialismus nach 1933. Diese Erfahrungen weiterzugeben, damit daraus gelernt werde, das war wohl der lebenslange Impuls, der zu seiner enormen politischen und publizistischen Arbeit führte, für die er auch lange Jahre das Schreiben aufgab. Wer die Erfahrung dieser Generation – Richter wurde 1908 geboren und durchlitt alle Verhängnisse des 20. Jahrhunderts – ignoriert, wird kaum zu einem rechten Verständnis der Leistung Richters gelangen. Es waren zwei Dinge, die Richter besonders fürchtete: das Erstarken der Rechten und das Zersplittern der Linken. So gründete er 1956 mit anderen den „Grünwalder Kreis“, um gegen rechtsradikale Tendenzen zu kämpfen. Er führte Ende der fünfziger Jahre die Anti- Atomtod Bewegung an und war zeitweise Präsident der europäischen Föderation gegen Atomrüstung in Ost und West. Richter kannte die Sowjetunion, die er mehrmals bereiste, er kannte den Kommunismus, war er doch Mitglied der Partei gewesen, bis er 1932 ausgeschlossen wurde: er machte sich keine Illusionen, er war ein scharfer Kritiker des sowjetischen Systems.

Deshalb seine Enttäuschung über die linken Studenten und über die Professoren und Schriftsteller, die sich von ihnen zu linksradikalen Positionen treiben ließen: für ihn war es eine lächerliche Wiederkehr dessen, was er vor 1933 erlebt hatte. Nur fanden die Diskussionen über Marxismus diesmal auf niedrigerem Niveau statt, wenn sich auch die Realitätsblindheit wiederholte. Er wusste die Bundesrepublik als funktionierende Demokratie zu schätzen und er wollte seinen Beitrag zum besseren Funktionieren leisten. Er bewahrte einen klaren Kopf und  beobachtete kopfschüttelnd, wie kluge Kollegen zu politischen Dummköpfen wurden. Dies mag erstaunen: Richters Kritik in seinem Tagebuch richtet sich vor allem gegen die Kollegen, nicht gegen die Politik der Bundesregierung. Diese äußerte er allenthalben in der Öffentlichkeit, etwa in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Bestandausaufnahme“, in den Wählerinitiativen für die Sozialdemokraten, die er leitete oder inspirierte. Im Nachwort von Dominik Geppert ist das nachzulesen.

In diesem Tagebuch können wir die zweite Hälfte der öffentlichen Tätigkeit Hans Werner  Richters kennen lernen, die bisher kaum beachtet wurde: das offene Gespräch innerhalb der Gruppe 47 mitsamt den politischen Initiativen am Rande der Gruppe wäre die erste Hälfte, seine Arbeit als Leiter von Hörfunk- und Fernsehsendungen über politische und literarische Themen wäre die zwei Hälfte. Nicht zuletzt um die geht es hier. Richter wechselte in diesen Jahren zwischen seiner Wohnung in München und einer Wohnung im ehemaligen Hause des Verlegers Samuel Fischer im Berliner Grunewald. In der Villa Fischers wurden die Sendungen aufgenommen, die Richter leitete. Richter ist so gesehen ein Erfinder der heute so beliebten Talkshows. Freilich war er ein kompetenter Moderator, der nicht die Karten ablas, die ihm eine Redaktion zusammengestellt hatte. Er war Redakteur und Moderator zugleich   und er stellte die Runden zusammen, in denen immer Autoren, Professoren und Politiker unterschiedlicher Couleur saßen, allerdings keine Filmstars, Köche oder Sportler. Es ging um Sachthemen. Also auch hier: das offene, auch kontroverse Gespräch, aber keine Vernichtung des Gegners. Danach saß man beim Essen und beim Wein, auch in größerer Runde zusammen. Und so wirkte Richter weiterhin in die Öffentlichkeit hinein, wenn auch weniger spektakulär als durch die Tagungen der Gruppe 47: durch die Sendungen und durch die Netzwerke, die durch den wachsenden Kreis der Teilnehmer sich bildeten, der freilich auch einen harten Kern hatte, wie einst in der Gruppe, der immer wieder kehrte.

Das war es ja auch, was ihn an den studentischen Protesten, mit denen er zunächst sympathisiert hatte, verstörte: der Meinungsterror. Da wurde manchen das Wort verboten, auch abgeschnitten, Vorträge, Vorlesungen durch Terror beendet. Ein Emigrant etwa wie der Kunsthistoriker Otto von Simson konnte an der Freien Universität Berlin nicht mehr lehren,  weil ihn die linken Studenten als Bürgerlichen verfolgten. Nicht nur ihn ergriffen schlimme Erinnerungen. Dieser Meinungsterror, der bestimmte Themen verbot, andere nur unter ideologischen Vorzeichnen zu diskutieren erlaubte, einzelne Personen öffentlich vernichtete, die andere Meinung waren, ist ein schlimmes Erbteil der Studentenbewegung, das bisweilen auch heute noch in den Medien sich zeigt. Dagegen stand Richter entschieden: für ihn, der in Bundeskanzler Willy Brandt seinen politischen Wunsch verwirklicht sah, war die CDU immer ein Gesprächspartner, kein Feind. So war er mit einem CSU-Bundestagsabgeordneten befreundet. Sein klares politisches Urteil, das ihn von vielen Kollegen damals unterschied,  hat ihm nicht nur Freunde gemacht. Und auch darin unterschied sich Richter von manchen seiner Kollegen und den meisten Studentenführern jener Jahre: die Bedrohung Israels 1967 beschäftigte ihn zunächst mehr als die Studentenunruhen. Der Krieg im Nahen Osten war ihm wichtiger als der Tod des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin. In Israel, so schien es ihm, drohte erneut die Vernichtung der Juden. Aus Münchener Sicht verstand er zunächst die Berliner Aufregung nicht.

Und doch ist ein Leitthema dieser Tagebücher die Gruppe 47. Sie ist sein Werk, daran zweifelten auch die andern nicht, sie war Teil von ihm. Hier zeigte sich auch seine Eitelkeit, auch seine Verletzlichkeit. Wer sie angriff, griff ihn an. Und das nahm er übel, jedenfalls im Tagebuch. In dem wird aber auch deutlich, dass er bereit war, zu verzeihen und einzulenken, sonst wäre ihm die Leitung der Gruppe nicht gelungen. Solange die Gruppe bestand, war die immer wiederkehrende Frage: wie lange noch? Viele machten sich zu Fürsprechern eines baldigen Endes. Als sie dann zu Ende ging, nicht wegen des harmlosen und sorgfältig inszenierten Lärms einiger Studenten bei der Tagung in der Pulvermühle 1967, war der Jammer groß.

Geplant war die nächste Tagung in der Nähe von Prag. Der tschechoslowakische Schriftstellerverband hatte eingeladen, um mit Hilfe der berühmten Gruppe seine eigenen Autoren bekannt zu machen. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Panzer im August 1968, nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, in dem Richter noch einmal seine Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus aufscheinen sah, musste die Tagung abgesagt werden. Eine neue, wiewohl immer mal wieder geplant, kam nicht mehr zustande.

Richter sammelte im Tagebuch mit einer gewissen Genugtuung die Stimmen all jener, die ihn baten, die Gruppe wieder aufleben zu lassen. Auch die, die vorher ihr Ende wünschten, baten nun um ihre Wiederkehr. Die Gründe, die sie nennen, zeigen noch einmal die Leistung der Gruppe: die Gruppe setzte literarische Maßstäbe, die heute fehlen, sie sammelte Einzelgänger, die heute vereinsamt sind. Alle waren sich freilich einig, dass eine Wiederkehr der Gruppe 47 nur mit Hans Werner Richter möglich wäre. Es war ein Glücksfall für die deutsche Literatur.

Als Toni Richter, die Witwe des Schriftstellers, der 1993 verstarb, die Hans Werner Richter –  Stiftung Bansin 1998 einrichtete, ging es ihr nicht um das abgeschlossene Werk ihres Mannes, sondern um dessen Fortsetzung. Die Stiftung versammelt einmal im Jahr in der alten pommerschen Universitätsstadt Greifswald junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller, nicht nur deutscher Zunge, sondern auch solche aus den Staaten der Ostsee, des baltischen Meeres, das der Fischersohn Richter von der Insel Usedom so liebte, zu Lesung und Gespräch.