ER HAT DAS BILD DER DEUTSCHEN LITERATUR VERÄNDERT

ER HAT DAS BILD DER DEUTSCHEN LITERATUR VERÄNDERT

von Hans-Dieter Zimmermann

„Du wirst es nicht für möglich halten, wie sich ein Gegenstand allein durch die Darstellung verändert,“ sagte einmal Hans Werner Richter zur Schriftstellerin Barbara König: „Auch wenn alles stimmt, was da berichtet wird, ganz stimmt es dann doch wieder nicht.“ Was Schriftstellern durchaus geläufig ist, auch von ihnen mitunter reflektiert wird, scheint Literaturwissenschaftlern oft fremd: sie schreiben dann in einem naiven Realismus, als sei der Gegenstand, den sie sich rekonstruieren oder konstruieren, ganz und gar identisch mit dem historischen Faktum, das sie untersuchen. Hans Werner Richter: „In fünfzig Jahren wird kein Mensch mehr eine Ahnung haben von dem, was die Gruppe 47 wirklich war.“

Ich muss gestehen, dass ich das Phänomen „Gruppe 47“ erst von dem Augenblick an zu verstehen begann, als ich Hans Werner Richter kennen lernte. Das Geheimnis der Gruppe 47 war die Persönlichkeit von Richter. Er leitete Anfang der achtziger Jahre dreimal die Jury des von Günter Grass gestifteten Alfred – Döblin- Preises, und ich gehörte ihr ebenfalls an. Richter war von einer ruhigen Freundlichkeit, von einer gewissen Gelassenheit, die nie Gleichgültigkeit war. Er hatte das Talent zur Freundschaft. Er schien manchmal desinteressiert, hörte aber immer zu. Er versuchte sich durchzusetzen, ließ aber auch den andern gelten. In den ersten beiden Jurys setzte er sich nicht durch, was aber seine Laune nie trübte. Er trug es auch keinem nach. Und nach jeder Jury- Sitzung gab es ein kleines Fest, zu dem er alle einlud, die gerade im Literarischen Colloquium weilten.

Sein soziales Verhalten war durchaus ungewöhnlich für einen Künstler nach meiner Erfahrung. Hans Werner Richter war eines von sieben Kindern, das fünfte. Da musste man sich behaupten und die anderen akzeptieren, beides zugleich war notwendig. Und das kam ihm in der Gruppe der eigenwilligen Autoren zugute. So gelang es ihm über 20 Jahre lang, einen bunten Haufen von Schriftstellern zusammenzuhalten. Fast alle bedeutsamen westdeutschen Autoren der fünfziger und sechziger Jahre lasen wenigstens einmal auf einer der Tagungen der Gruppe 47, die meistens zweimal im Jahr stattfanden, von 1947 bis 1967. Richter lud dazu mit einer Postkarte ein, natürlich folgte er den Empfehlungen von Kolleginnen und Kollegen.

Die Tagungen hatten ein schlichtes Ritual. Richter saß vorne und rief den Autor oder die Autorin auf, der bzw. die dann nach vorne kam und einen Text las, über den anschließend diskutiert wurde. Autor oder Autorin durfte nicht mitreden. Es durfte nur über den gelesenen Text gesprochen werden; politische Diskussionen fanden gelegentlich am Rande in kleinem Kreise statt; dort wurden auch die politischen Resolutionen verfasst, nie im Namen der Gruppe, sondern immer nur im Namen derjenigen, die sie unterzeichneten.

Am Anfang sprachen nur Schriftsteller mit Schriftstellern, später kamen auch Kritiker hinzu: Joachim Kaiser, Hans Mayer, Marcel Reich- Ranicki. Die Gruppe 47, die am Anfang von konservativen Kritikern wie dem damaligen Literaturchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Friedrich Sieburg heftig angegriffen worden war („Waschküchenliteratur“), wurde bald berühmt. Ihre Tagungen wurden zu Medienereignissen. Wer bei Ihr Erfolg hatte, fand einen Verleger; einige der bekanntesten saßen in der letzten Reihe und hörten zu; sie stifteten auch das Geld für den Preis der Gruppe 47.

Auch wer keinen Erfolg hatte, wie Paul Celan, dessen hoher Ton 1952 bei Richter wenig Anklang fand, wurde durch die Lesung bekannt. Er fand einen Verleger und Freunde wie Heinrich Böll und Paul Schallück, mit denen er dann korrespondierte (siehe die Briefausgabe). Er stand in Kontakt mit Walter Höllerer, dem es schließlich gelang, ihn zur Lesung nach Berlin einzuladen, wo er großen Erfolg hatte. Helmut Böttiger hat in seiner Ausstellung über Walter Höllerer und in dem dazu gehörigen Katalog diesem Verhältnis von Höllerer zu Celan ein ganzes Kapitel gewidmet. (Literaturhaus Berlin 2005.)

Die Gruppe ergänzte sich mit den Jahren um neue Jahrgänge. Da waren die älteren wie Richter, die noch Soldat hatten werden mussten, die jüngeren, die zum letzten Aufgebot gehörten wie Günter Grass, und die jungen wie Peter Bichsel oder Hans Christoph Buch. Und, nicht zu vergessen, die jüdischen Emigranten. Es gab wohl in den fünfziger und sechziger Jahren keine Gruppierung in Deutschland, in der jüdische Emigranten und Überlebende so stark vertreten waren wie in der Gruppe 47: neben Hans Mayer und Reich- Ranicki waren dies vor allem die Altersgenossen der 47er: Ilse Aichinger, Erich Fried, Wolfgang Hildesheimer, Jakov Lind, Peter Weiss. Mit Weiss war Richter eng befreundet; sie fuhren gemeinsam in Urlaub.

Außerdem hatten die Mitglieder der Gruppe – es gab ja keine eingetragene Mitgliedschaft – , die etwa ab 1960 in der Abteilung Literatur der Akademie der Künste in West- Berlin das Sagen hatten, vor allem Walter Höllerer und Ernst Schnabel, dann Uwe Johnson und Günter Grass, weitere jüdische Autoren als Akademie- Mitglieder herangezogen: Jean Amery, Max Brod, Elias Canetti, Peter Demetz, Michael Hamburger, Peter Szondi. Direktor der Abteilung war lange der jüdischer Emigrant Hans Mayer. Man müsste bei der Beurteilung der Gruppe 47 auch diesen „Nebenschauplatz“ in der Akademie der Künste beachten. Stellvertreter Höllerers im Literarischen Colloquium war ein jüdischer Emigrant, der Übersetzer Walter Hasenclever. Es fällt mir schwer, deutsche Schriftsteller nach Juden und Nicht- Juden zu sortieren, wie das die Nazis getan haben; aber Angriffe auf die Gruppe, sie sei irgendwie antisemitisch gewesen, machen diesen Hinweis doch nötig. Die Nichtjuden sollten den Juden in der Gruppe 47 die Entscheidung überlassen, wer Antisemit war und wer nicht. Mein Lehrer Hans Mayer war in diesem Punkt sehr empfindlich. Und er war mit Richter befreundet und schrieb einen Text über ihn mit warmer Sympathie. Er ist als Nachwort in „Ein Julitag“ im Verlag Wagenbach abgedruckt.

Einige weitere Autoren, die immer wieder teilnahmen: Ilse Aichinger, Carl Amery, Alfred Andersch, Ingrid Bacher, Ingeborg Bachmann, Reinhard Baumgart, Jürgen Becker, Horst Bienek. Johannes Bobrowski, Heinrich Böll, Günter Eich, Gisela Elsner, Hans Magnus Enzensberger, Hubert Fichte, Barbara Frischmuth, Walter Jens, Uwe Johnson, Barbara König, Siegfried Lenz, Helga M. Novak, Renate Rasp, Ruth Rehmann, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser, Gabriele Wohmann. Mit dem Einzelgänger Wolfgang Koeppen, der nie teilnahm, war Richter gleichwohl befreundet: zwei Pommern in München.

Mit 12 Jahren, so erzählte Hans Werner Richter wiederum Barbara König, habe er einen Verein für die besten Jung- Schwimmer im Seebad Bansin an der Ostsee gegründet, wo er aufwuchs; geboren wurde er 1908 im nahen Neu- Sellenthin. „Die konnten ja alle besser schwimmen als ich, aber ich habe sie zusammengebracht, und ich habe sie zusammengehalten.“ Später fragte sie ihn, ob sie wirklich besser schwimmen konnten.

Richter darauf: „Das ist doch egal – sie glaubten es jedenfalls, das genügte.“ Barbara König bewunderte diese Weisheit, denn nach dieser Maxime dirigierte er auch die Gruppe 47, meinte sie. Er saß vorne und unterwarf sich nicht dem Urteil der anderen, er lief außer Konkurrenz; das hieß aber auch, dass seine Werke geflissentlich übersehen wurden. „Man kann nicht eine Gruppe begründen wie die Gruppe 47, die berühmt wird“, sagte er einmal zu mir, „und dann auch noch als Schriftsteller berühmt werden. Das hätten mir meine Freunde, glaube ich, übel genommen.“

In der Tat hatte er ja für einige Zeit das Schreiben aufgegeben. Nach seinen frühen Werken, die von 1949 bis 1959 erschienen, kam eine Pause von mehr als zehn Jahren, in der er sich der Gruppe 47 und politisch- publizistischen Tätigkeiten widmete. So gründete er 1956 den „Grünwalder Kreis“, einen Zusammenschluss demokratischer Politiker und Intellektueller, die gegen das Erstarken nazistischer Tendenzen antraten, die beim Aufbau der Bundeswehr zu befürchten waren. Und Ende der fünfziger Jahre führte er die Anti- Atom- Tod- Bewegung an; er war Präsident der Europäischen Föderation gegen Atomrüstung in West und Ost. Diese Tätigkeit Richters und seiner Freunde aus dem Umkreis der Gruppe 47, auch das „Sozialdemokratische Wahlbüro“, das er mit anderen begründete, ist nicht zu unterschätzen. Es war eine Zeit, in der in der Bundesrepublik demokratische Opposition und Meinungsvielfalt nach 12 Jahren Nazi- Diktatur wieder zu erlernen waren.

Heute ist die Atmosphäre der sog. Adenauer- Zeit nur noch schwer vorstellbar. Adenauer selbst war daran nicht schuld; er war kein Nazi und hatte ein Misstrauen gegen die Deutschen, weshalb er eher autoritär regierte. Es lag ein bleiernes Schweigen über dem Land wenige Jahre nach Krieg und Nazizeit, ein ängstliches und ein schuldhaftes Schweigen. Von der Vergangenheit redete man nur in der Familie, kaum in der Öffentlichkeit. Wer dieses Schweigen brach, musste durchweg mit Missachtung und Isolation rechnen. So waren die Schriftsteller, die von der jüngsten Vergangenheit sprachen und schrieben, unliebsame Ruhestörer. Etwa das Buch von Alfred Andersch „Kirschen der Freiheit“, in dem ein deutscher Soldat desertiert, wurde scharf angegriffen.

Unter diesem Aspekt sind auch die frühen Romane Richters zu sehen, also seine Kriegs-, besser Anti- Kriegsromane, die sich aber mit den entsprechenden Texten von Heinrich Böll, Alfred Andersch und Gert Ledig messen können: Nach „Die Geschlagenen“ (1949, sein erstes Buch), „Sie fielen aus Gottes Hand“ (1952) kam „Du sollst nicht töten“ (1953), den Kritiker allerdings für einen der besten deutschen Anti- Kriegsromane nach 1945 halten. Dann schrieb Richter den autobiographischen Roman „Spuren im Sand“ (1954), der seine Kindheit und Jugend auf der Insel Usedom erzählt, seine Versuche zur See zu fahren und Buchhändler in Swinemünde zu werden und schließlich die Hungerjahre in Berlin, wo er endlich 1927 als Gehilfe in einer Buchhandlung Arbeit fand.

Er wurde Mitglied der Kommunistischen Partei, aber bald schon wegen Trotzkismus ausgeschlossen, was ihm später bei Gestapo- Verhören hilfreich war. 1933 emigrierte er; dazu Marcel Reich- Ranicki: „Er floh nach Paris, wo es ihm schlecht ging, weshalb er 1934 nach Berlin zurückkehrte. Er versuchte sich in verschiedenen Berufen und fand schließlich, von der Gestapo mehrfach vernommen und unter Aufsicht gestellt, Unterschlupf im Buchhandel. Ab 1940 war er Soldat (zunächst beim Zoll in Polen); 1943 geriet er während der Schlacht bei Monte Cassino in amerikanische Gefangenschaft. In einem Lager in den Vereinigten Staaten, wo er eine Zeitschrift für Kriegsgefangene redigierte, begann seine schriftstellerische und journalistische Laufbahn. Als er 1946 wieder nach Deutschland zurück durfte, ließ er sich in München nieder und war schon wenige Jahre später einer der bekanntesten Vertreter wenn auch nicht gerade der jungen, so jedenfalls der neuen deutschen Literatur.“

Von seiner Erfahrung mit Krieg und Diktatur, aber auch vom Versuch der kleinen Leute zu leben und zu überleben, zeugen seine literarischen Werke, die ab 1970 erschienen. „Geschichten aus Bansin“ ist ein heiteres Buch über seine Kindheit im Seebad Bansin, vor allem aber über seinen schlitzohrigen Vater, der mehr schlecht als recht die große Familie zu ernähren suchte. Das Bändchen ist in der 5. Auflage im Verlag von Klaus Wagenbach erschienen, auch er ein Teilnehmer der Tagungen der Gruppe 47.

„Eigentlich stehe ich nur zu den drei letzten Romanen“, sagt er einmal zu mir. Er meinte damit die drei relativ kurzen Romane voll Lakonie und – ja – Lebensweisheit: „Die Flucht nach Abanon“ (1980), „Die Stunde der falschen Triumphe“ (1981) und „Ein Julitag“ (1982). Als er diese Werke schrieb, war er schon über siebzig Jahre alt. Sein Meisterwerk ist meiner Meinung nach „Ein Julitag“, das nun auch wieder im Verlag von Klaus Wagenbach erschien mit einem schönen Nachwort von Hans Mayer. Hier erzählt er seine eigene Geschichte. Als sein Bruder in Schweden gestorben war, fuhr Hans Werner Richter zur Beerdigung. Nach der Trauerfeier sitzt der Erzähler mit seiner Schwägerin, die einmal seine Freundin war, auf der Terrasse und blickt zurück auf die Stationen seines und ihres Lebens. Gemeinsam mit dieser Freundin war er 1933 nach Paris emigriert, wo sie beide sich durchhungerten, bis sie verzweifelt 1934 wieder nach Berlin zurückkehrten, wo Richter dann einige Zeit sich verbarg, bis er eine Arbeit fand, bis ihn die Gestapo fand und bis er in der Wehrmacht untertauchte.

Hans Werner Richter zitierte im Gespräch mit Barbara König einen Satz von Günter Grass: „Vergesst nicht, wir schreiben alle gegen die verstreichende Zeit.“ Und er fuhr fort: „Genau das richtige Wort, denn das ist auch mein Wunsch: die Zeit von damals zu erhalten. Es ist immer nur die Literatur, die eine Zeit weitergibt, Geschichtsdaten bedeuten gar nichts.“ .

Als Toni Richter zum 90. Geburtstag ihres 1993 verstorbenen Mannes die Hans Werner Richter- Stiftung Bansin einrichtete, wollte sie nicht eine Stiftung begründen, die sich mit den Büchern ihres Mannes befasste, wohl aber mit seinem Werk, indem sie es fortzusetzen versucht: jüngere Schriftstellerinnen und Schriftsteller soll die Stiftung zu Lesung und Gespräch zusammenführen, um diese Menschen anzuregen und die Literatur und das Gespräch zu befördern als wichtige Elemente der demokratischen Kultur. Die Stiftung ist klein, aber ihre Mittel reichen aus, um einmal im Jahr eine Tagung in der alten pommerschen Universitätsstadt Greifswald abzuhalten: Lesungen und Gespräche über das Vorgelesene. Wie sagte Joachim Kaiser in Erinnerung an die Tagungen der Gruppe 47: es macht Spaß, über Literatur zu fachsimpeln.

(Das Standardwerk zur Gruppe 47 schrieb Helmut Böttiger, der dafür den Leipziger Buchpreis erhielt: Die Grupor 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, DVA 2012.)

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